6.2.  Reibungsbedingte Abbildungseffekte

Es wurden mit dem AFM bereits viele verschiedene Erscheinungen im Zusammenhang mit atomarer Reibung beobachtet, die grob in zwei Kategorien unterteilt werden können: zum einen gibt es sogenannte Einlaufstreifen und atomare Stick-Slips, die in einzelnen Rasterzeilen auftreten und daher als eindimensionale Reibungsphänomene bezeichnet werden, zum anderen gibt es viele weitere Effekte, die erst im Gesamtbild sichtbar werden und daher zweidimensionale Reibungsphänomene genannt werden. Eine solche Unterteilung ist auch beim STM sinnvoll.

6.2.1.  Eindimensionale Reibungsphänomene

Stick-Slips
Bereits bei den ersten STM-Messungen2 auf Graphit wurden Diskontinuitäten auf atomarer Skala entdeckt. Ein Beispielbild mit dem dazugehörigen Querschnitt der 248sten Scanzeile —es wurden pro Bild 256 × 256 Punkte aufgenommen, also 256 Zeilen, wovon die unterste die erste ist, und die oberste die 256ste— zeigt Abbildung  6.1.

PICPIC

Abbildung 6.1: Im CCI-Modus aufgenommenes STM-Bild eines 25 Å×25 Å großen Ausschnitts der HOPG-(0001)-Oberfläche: UT = 0,35 V; IT = 1,2 nA; 13 Hz. Rechts der Querschnitt der 248sten Scanzeile.

Selbstverständlich kann es sich wegen der endlichen Geschwindigkeit des Regelkreises nie um echte Unstetigkeiten handeln.

Bilder mit ähnlichem Charakter wurden vielfach mit dem AFM erzeugt [34]. Da der schnelle, fast unstetige Sprung des entsprechenden Signals ein „Zurückschnellen“ der Feder beim AFM bedeutet, wird dieses sägezahnförmige Profil im allgemeinen derart interpretiert, daß die Spitze im Bereich der größten Steigung des Potentials „haften“ bleibt (stick), um im nächsten Moment, in dem die Federspannung einen Schwellenwert erreicht, einen Gitterplatz weiterzuspringen (slip3), woher der Begriff „Stick-Slip“ stammt.

Wird die Abtastrichtung gegenüber den atomaren Reihen etwas gedreht, so erhält man zusätzlich zu den atomaren Stick-Slips auch sogenannte Reihen-Stick-Slips: beim Durchlauf einer Zeile springt die Spitze nach einer gewissen Anzahl A von Gitterplätzen zu einer jeweils neuen atomaren Reihe. Wenn man den Winkel entsprechend wählt, kann diese Anzahl eine natürliche Zahl sein, wodurch der Querschnitt eine Periodizität erhält. Dies kann mit den Eigenbau-Rasterkraftmikroskopen der Arbeitsgruppe gezielt praktiziert werden, mit dem kommerziellen STM jedoch nicht, da der Winkel hier nur in 15°-Schritten einstellbar ist. Abbildung  6.2


PICPIC

Abbildung 6.2: Gleiche Parameter wie bei Bild  6.1. Ein Reihensprung in der 213sten Scanzeileist ist mit einem weißen Pfeil gekennzeichnet. Rechts der Querschnitt der 213sten Scanzeile.

zeigt diesen Effekt, bei dem A zwischen zwei und drei liegt.

Wie schon auf Seite  148 erwähnt, kann auch die Orientierung der Nadel im Bezug zur Scanrichtung einen entscheidenden Einfluß auf den Bildcharakter haben. Dies soll hier kurz anhand dreier kurz hintereinander gemessener STM-Bilder, die in Abbildung  6.3


a)PIC b)PIC c)PIC

d)PIC
Abbildung 6.3: Gleiche Parameter wie bei Bild  6.1 bis auf Scanrate: 15,3 Hz. Es handelt sich um aufeinanderfolgend aufgenommene Bilder, wobei die Scanrichtung jeweils um 60° gedreht wurde. Zum ersten ist außerdem der Querschnitt der 236sten Scanzeile zu sehen.

zu sehen sind, verdeutlicht werden. Während oben links noch die durch Stick-Slip-Prozesse bedingten Schuppen zu sehen sind —mit A  ~~ 3, wie der Querschnitt der 236sten Scanzeile zeigt—, verlaufen die Diskontinuitäten in den weiteren beiden Bildern, die mit einem Winkel von jeweils ±60° gegenüber dem ersten Bild aufgenommen wurden, in andere Richtungen, was ihnen eine andere Struktur verleiht. Da solche Drehungen das hexagonale Gitter identisch abbilden, kann für diesen Effekt nur eine Asymmetrie der Spitze verantwortlich sein.

Bei den Untersuchungen mit dem STM wurde noch eine besondere Variation der Stick-Slip-Prozesse beobachtet, die im folgenden dargestellt werden soll: auf Wolframdiselenid (WSe2) wurden nach kleinen apparativen Modifikationen sowohl Hinlauf als auch Rücklauf simultan aufgenommen. Da dies im Park-System nicht vorgesehen war, gibt es allerdings auch eine kleine Einschränkung: es ist nur der Betrieb im CHI-Modus sinnvoll. Dabei wurden Resultate wie die in Abbildung  6.4


a)PIC b)PIC c) PIC

Abbildung 6.4: STM-Aufnahme einer WSe2-Oberfläche von 20,3 Å × 20,3 Å; UT = 3,24 V; IT = 3,65 nA; 15,3 Hz. (a) Hinlauf, (b) Rücklauf, (c) Hysterese der 127sten Scanzeile.

vorgestellten gewonnen. Schon bei Betrachtung der Strombilder, aber erst recht bei der Auswertung der Querschnitte fällt auf, daß minimaler, maximaler und mittlerer Stromwert des Hinlaufs deutlich unter denjenigen des Rücklaufs liegen: bei Aufzeichnung beider Querschnitte einer Scanzeile zeigt sich eine Hysterese. Eine solche ist bei AFM-Messungen durchaus normal, denn die Feder wird bei Hin- und Rücklauf im allgemeinen in entgegengesetzte Richtungen gespannt. Sie gibt sogar Aufschluß über die durch Reibung dissipierte Energie: wenn die aufgetragene Kraft die gleiche Richtung wie die Probenbewegung aufweist, was durch bestimmte Wahl des Scanwinkels erreichbar ist, so ist diese Energie der durch die Hysterese eingeschlossenen Fläche proportional. Beim STM jedoch werden keine Kräfte, sondern Ströme gemessen, und es sollte kein Unterschied zwischen den mittlerer Strömen von Hin- und Rücklauf zu erwarten sein. In den meisten Fällen ist dies auch nicht der Fall: aufgrund der Stick-Slip-Prozesse liegt lediglich ein Versatz zwischen den Stromextremen des Hin- und Rücklaufs vor, und die Differenz der beiden unter den jeweiligen Kurven liegenden Flächen ist Null. Einen solchen Fall präsentiert Abbildung  6.5.

PIC

Abbildung 6.5: Querschnitt der 127sten Scanzeile von Bild  6.10b (mit Rücklauf).

Natürlich läßt sich der Versatz nur bis auf ein Vielfaches der Gitterkonstanten g genau bestimmen.

Die Kurve  6.4c zeigt allerdings nicht nur eine Hysterese, es fällt auch auf, daß im Hinlauf schmale Strommaxima, im Rücklauf dagegen schmale Minima auftauchen. Wie man anhand der Bilder  6.4a und b sieht, ist dies in allen Zeilen der Fall.

Wenn man davon ausgeht, daß wie beim AFM laterale Kräfte für diese Stick-Slip-Prozesse verantwortlich sind, so sollte hier noch zusätzlich versucht werden, mögliche Zusammenhänge zwischen dem gemessenen Strom und den anzunehmenden Kräften aufzuzeigen. Ein erster Erklärungsversuch könnte auf der schon auf Seite  159 angedeuteten Verbiegung der Spitze basieren. Eine solche kann nämlich dazu führen, daß sich die Orientierung der Spitze gegenüber der Probenoberfläche derart ändert, daß die Art der Elektronenorbitale, die das „Hängenbleiben“ des untersten Teils der Spitze an den Probenatomen verursachen, wechselt. Denn nicht Elektronen aller Zustände können zum Tunnelstrom beitragen, nur diejenigen mit einem Wellenvektor k _L  ~~ kF , d.h. nahe der Fermioberfläche. Wechselwirkungskräfte involvieren dagegen Elektronen des gesamten Impulsraums (k < kF ) [17]. Mit anderen Worten könnte auf die vordere Flanke der relevanten Spitzenatome beim Hinlauf eine repulsive Kraft wirken, die einerseits eine Weiterbewegung der Spitze verhindert, aber auch eine für hohen Tunnelstrom förderliche Überlappung geeigneter Orbitale, wie z.B. zwischen x = 5 Å und x = 9 Å in der 127sten Scanzeile (Abb.  6.4c). Dieser Zustand hält an, bis ein Schwellenwert der Auslenkung, der durch die Elastizität der Nadel gegeben ist, überschritten wird. An diesem springt die Spitze zum nächsten Gitterplatz, wobei die Verbiegung kurzfristig nachläßt und ein höherer Tunnelstrom möglich wird. Beim Rücklauf erfährt ein anderer Spitzenzustand die größte Annäherung an die Probe. Dieser könnte während der Stick-Phase einen hohen Tunnelstrom bedingen, zum Zeitpunkt des Slip hingegen tritt eine ähnliche Situation ein wie bei der Slip-Phase des Hinlaufs. Dies würde auch erklären, wieso die Maxima des Hinlaufs auf ähnlichem Niveau liegen wie die Minima des Rücklaufs, was in den anderen Scanzeilen ebenfalls mehr oder weniger der Fall ist. Die Abbildungen  6.6a und b


a)PIC b) PIC

Abbildung 6.6: Illustration zur Asymmetrie bei (a) Hin- und (b) Rücklauf.

zeigen eine Illustration zu dieser Modellvorstellung.

Wenn man als andere Möglichkeit von der Vorstellung einer Verbiegung der Spitze absieht, also zulassen würde, daß beide, für den Hin- und Rücklauf relevanten Orbitale immer den gleichen Abstand zur Probenoberfläche hätten, so müßte gewährleistet sein, daß das jeweils nicht an der lateralen Kraft beteiligte Orbital sich während der Stick-Phase innerhalb einer Potentialmulde befände, also ca. eine halbe Gitterkonstante vom anderen entfernt. Da solch eine kurze Distanz zwischen den Orbitalen allerdings unwahrscheinlich ist, wäre in diesem Fall zu vermuten, daß sie zwar weiter auseinanderliegen, die Projektion ihrer Entfernung auf die x-Achse, also die Scanrichtung, aber bis auf ein Vielfaches der Gitterkonstanten g ungefähr 1
2g entspricht: eine „Nano-Doppelspitze“ also.

Einlaufstreifen
Fast immer tritt zusammen mit den Stick-Slips zu Beginn jeder Scanzeile eine Besonderheit auf, die ebenfalls aus AFM-Bildern schon bekannt ist: der Einlaufstreifen. Dabei handelt es sich um Streifen im AFM- bzw. STM-Bild, die parallel zur Scanrichtung verlaufen und keine atomare Struktur erkennen lassen. Nach Abbruch der Streifen, werden allerdings Strukturen sichbar, deren Periodizität mit derjenigen der Probenoberfläche übereinstimmt. Dieser Effekt ist auf allen bisher im vorigen Abschnitt beschriebenen Bildern bereits zu sehen gewesen und in verschiedenem Maße ausgeprägt. Beim AFM bedeutet dieser Streifen, daß die Feder bis zu einem gewissen Wert vorgespannt wird, ehe die Spitze mit der eigentlichen Abtastung der Probe beginnt. Hierzu analog kann davon ausgegangen werden, daß auch beim STM der unterste Teil der Nadel gegenüber ihrer Halterung ausgelenkt wird.

Etwas längere Einlaufstreifen von etwa 10–15 Ångstrøm zeigt Abbildung  6.7


a)PIC b)PIC c) PIC

Abbildung 6.7: STM-Aufnahme einer WSe2-Oberfläche von 33 Å × 33 Å; UT = 1,024 V; IT = 3,37 nA; 30,5 Hz. (a) Hinlauf, (b) Rücklauf, (c) Hysterese der 115sten Scanzeile.

sowohl im Hin- als auch im Rücklauf. Bei Betrachtung der Querschnittskurven (Abb.  6.7c), wo der gemessene Strom der 115sten Scanzeile über x aufgetragen ist, fällt auf, daß der Strom innerhalb des Einlaufstreifens einerseits zunehmen, aber auch mit der Zeit abnehmen kann. Bei der Auswertung weiterer Bilder hat sich herausgestellt, daß unabhängig von der verwendeten Spitze beide Fälle mit ähnlicher Häufigkeit auftreten können.

Einen möglichen Erklärungsansatz würden wiederum die Überlegungen zu den Stick-Slip-Prozessen liefern. Bei ansteigendem Strom könnte es sich um eine wie die in Bild  6.6a dargestellte Situation handeln: Mit fortschreitender Bewegung der Probe relativ zur Nadelhalterung steigt die repulsive laterale Kraft, was zu einer weiteren Annäherung beider Elektronenorbitale führt, wodurch sich der Tunnelstrom erhöht. Abfallenden Strom könnte dagegen Bild  6.6b veranschaulichen: Hier wirkt durch die teilweise Überlappung beider Orbitale eine attraktive laterale Kraft. Im Verlauf der Scanbewegung vergrößert sich daher ihr Abstand, was zu einer Verringerung des Tunnelstroms führt.

In Bild a der Abbildung  6.7 zeigen die Einlaufstreifen in den meisten Scanzeilen noch eine Besonderheit: Jeweils zu Beginn —also ganz links, da es sich um den Hinlauf handelt— treten Diskontinuitäten im Tunnelstrom auf, bevor der eigentliche Einlaufstreifen beginnt. Eine mögliche Erklärung liegt darin, daß sich die Spitze in diesen Fällen zu Beginn einer Scanzeile vermutlich noch gar nicht in einer Potentialmulde befindet, sondern erst nach Fortschreiten des Scanvorgangs um bis zu etwa einer halber Gitterkonstanten, wo die für den Einlaufstreifen verantwortliche laterale Kraft einsetzt. Eine andere Besonderheit erkennt man in den STM-Bildern jeweils gegenüber von den Einlaufstreifen, also beim Hinlauf im rechten Rand, beim Rücklauf im linken. Diese senkrechten Streifen, die keine Fortsetzung der atomaren Struktur zeigen, haben ihre Ursache mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Fehler im Meßprogramm.

Überaschenderweise werden die Einlaufstreifen zum Teil mehrere Nanometer lang, wie man anhand der in Abbildung  6.8


a)PIC c)PIC e)PIC
b)PIC d)PIC f)PIC

Abbildung 6.8: STM-Aufnahmen mit Einlaufstreifen. UT = 1,53 V außer (e) 1,17 V und (f) 0,5 V. IT = 5 nA bei (a) und (b), 4 nA bei (c) und (d), 9,3 nA bei (e) und 5,6 nA bei (f). Abtastrate = 27,13 Hz außer (e) 20,35 Hz. Scanfelddimensionen: (a) und (b) 75 Å × 75 Å, (c) und (d) 60 Å × 60 Å, (e) 55 Å × 55 Å und (f) 135 Å × 135 Å. Weitere Erläuterungen im Text.

aufgeführten Beispiele sehen kann. Durch den Verzicht auf den Rücklauf konnte eine vierfach höhere Auflösung verwendet werden, nämlich 256 × 256 anstelle von 128 × 128 Bildpunkten.

Die in Abbildung  6.8 zu betrachtenden STM-Bilder wurden auf WSe2 aufgenommen, bis auf das letzte (Bild f), welches auf MoS2 entstand.

Es hat sich herausgestellt, daß die Länge der Einlaufstreifen zum Teil vom Strom, d.h. vom Spitze-Probe-Abstand, abhängig ist: So wie man es erwarten würde, sind sie bei kleinen Abständen länger als bei großen, wie es der Vergleich der ersten beiden Spalten der Abbildung  6.8 verdeutlicht. Jedoch war diese Abhängigkeit nur kurzfristig reproduzierbar, da sich die untersten Spitzenatome vermutlich in einem labilen Zustand befanden, wobei das Wort Zustand hier den sowohl elektronischen als auch den geometrischen meint. Bild e entstammt z.B. einer Messung mit derselben Spitze, doch einige Stunden früher; es wurden bei einem sehr viel höheren Strom kürzere Einlaufstreifen registriert.

Viel prägnanter ist die Abhängigkeit von den Scanwinkeln: Die Bilder a und c wurden bei ähnlichen Abtastrichtungen erzeugt, b und d bei um ca. 90° dazu gedrehten. Bei der Aufnahme von Bild e wurde diese Drehung nach etwa dem ersten Fünftel des Durchlaufs durchgeführt. Da diese Winkelabhängigkeit gut und sogar über mehrere Tage hinweg —mit derselben Spitze jedoch an unterschiedlichen Probenstellen— reproduzierbar war, liegt es nahe anzunehmen, daß hierfür eine makroskopische Eigenschaft der Tunnelnadel verantwortlich war, nämlich eine Anisotropie der Elastizität, da vermutlich die Elastizität der Nadel in Scanrichtung für die Ausprägung der Einlaufstreifen verantwortlich ist. Während die Nadel in der einen Richtung sehr elastisch ist, also eine kleine Federkonstante k hat, und dadurch zu Beginn jeder Scanzeile um große Strecken ausgelenkt wird, bewirkt eine größere Federkonstante in einer dazu senkrechten Richtung einen kleineren Einlaufstreifen.

Da bei einigen Messungen extrem lange Einlaufstreifen beobachtet wurden, die auf Molybdändisulfid sogar fast hundert Ångstrøm erreicht haben (siehe Abbildung  6.8f), stellte sich die Frage, in welcher Größenordnung die Federkonstante liegen muß, um solche Effekte zu erhalten. Der nächste Abschnitt befaßt sich kurz damit.

Abschätzung der Federkonstanten
Über die Kräfte, die beim STM zwischen Spitze und Probe wirken, weiß man relativ wenig, zumal sie, wie bereits erwähnt, sowohl attraktiv als auch repulsiv sein können. Als Abschätzung der oberen Grenze der Normalkraft kann jedoch die beim AFM im Kontakt-Modus (repulsiver Kraftbereich) übliche Kraft von etwa einem bis zehn Nanonewton dienen. Wenn man zusätzlich auf die durch AFM-Messungen gewonnene Erfahrung zurückgreift, daß der Reibungskoeffizient m = Flateral-
Fnormal im atomaren Bereich in der gleichen Größenordnung wie der makroskopische liegt, kann man diesen mit m  ~~ 0,1 abschätzen, woraus als sehr grobe Abschätzung eine maximale Lateralkraft von 0,1–1 nN resultiert. Bei einer für AFM-Spitzen gebräuchlichen Federkonstanten von etwa 0,1 N/m ergibt sich damit eine Auslenkung von 10–100 Å, was auch für AFM-Messungen ein typischer Wert ist. Bei höheren Auflagekräften werden auch längere Einlaufstreifen festgestellt.

Nach dieser sehr groben Abschätzung, die nur der Veranschaulichung der Größenordnungen dienen soll, sollte k im Falle der extremen Einlaufstreifen von fast 100 Å Länge den Wert 0,1 N/m nicht überschreiten. Wie sehen solche weichen Tunnelnadeln aus?

Es wurden für alle STM-Messungen unter Zugbelastung geschnittene Platin- Iridium-Drähte als Nadeln verwendet. Auf mikroskopischer Skala entstehen dabei sehr zerklüftete Strukturen, wie die rasterelektronenmikroskopische Aufnahme eines 13 µm × 16 µm großen Bereichs eines Nadelendes in Abbildung  6.9


PIC

Abbildung 6.9: Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme eines 13 µm × 16 µm großen Bereichs einer gezogenen Platin-Iridium-Spitze.

zeigt. Natürlich läßt sich nicht mehr bestimmen, welche einzelne kleine Spitze letztendlich der Probe am nächsten und somit für den Tunnelstrom verantwortlich war. Es sei für diese Abschätzung aber angenommen, daß es sich um den linken unteren Teil im Bild handelt und der mit dem weißen Pfeil markierte Bereich den Hauptteil der Elastizität ausmacht. Dieser Teil sei für die ungefähre Bestimmung der Federkonstanten als Balken mit quadratischer Querschnittsfläche angenommen. Nach [19] ist die Krümmung K eines solchen Balkens in einer Höhe h von seinem unteren Ende durch
      12F-h-
K  =   Eb4
(6.1)

gegeben, wobei F die bei h = 0 wirkende laterale Kraft, E die Elastizitätskonstante und b die Breite des Balkens sind. Die mittlere Krümmung ist bei einem Balken der Länge L also

---
K =  6F-L,
     Eb4
(6.2)

die so genäherte seitliche Auslenkung Dx, die klein gegen L sein soll, damit

          [          ---]
Dx  = -1-. 1 - cos(L K)  ,
      K
(6.3)

wie man sich anhand einer kleinen Skizze leicht überlegen kann.

Da bei kleinen Auslenkungen der Krümmungsradius r = 1/K groß im Vergleich zu L ist, kann die Kosinusfunktion durch die ersten beiden nichtverschwindenden Glieder ihrer Reihenentwicklung ersetzt werden, woraus eine Federkonstante von

              4
k =  F--- ~~  Eb-
     Dx    3L3
(6.4)

resultiert.

Da keine Information über die Elastizitätskonstante des zu 80 % aus Platin bestehenden Drahtes vorlag und die hier gemachten Schätzungen ohnehin sehr grob sind, wird für E diejenige reinen Platins verwendet, welche mit 168 GPa angegeben wird [44]. Setzt man nun diese Größe sowie die Werte L = 1 µm und b = 0,5 µm, die man an der in Abbildung  6.9 markierten Stelle abmißt, in Gl.  6.4 ein, so erhält man das Ergebnis k  ~~ 3500 N
m-, also eine zu harte Feder, um Einlaufstreifen von 100 Å Länge zu erklären. Erst eine sehr viel längere und/oder schmälere Faser als die unter dem Rasterelektronenmikroskop gefundene würde eine genügend kleine Federkonstante liefern. Sie dürfte —um ein Beispiel zu geben— bei einer Länge von 0,5 µm nicht dicker als 0,04 µm sein. Angesichts solch zerklüfteter Spitzen könnten solche Fasern vielleicht gerade mit ebenso großer Häufigkeit vorkommen, wie extreme Einlaufstreifen beobachtet werden.

6.2.2.  Zweidimensionale Reibungsphänomene

Jalousien
Bereits beim Anblick der STM-Bilder in Abbildung  6.7 fallen die waagerechten Streifen sowohl im Einlaufstreifen als auch in dem Bereich der Stick-Slips auf. Diese sind auch von AFM-Messungen bekannt; man nennt sie aufgrund der Ähnlichkeit mit gewissen Verdunkelungsvorrichtungen auch Jalousien. Es fällt auf, daß sie besonders dann auftauchen, wenn parallel zu den atomaren Reihen gescannt wird. Beim AFM erklärt man sich das dadurch, daß die Spitze bevorzugt zwischen zwei atomaren Reihen —man kann sagen: innerhalb eines Potentialgrabens— entlanggeführt wird und die Atomflanken der ihr am nächsten liegenden Reihe abtastet, bis die Federspannung in y-Richtung den Schwellenwert für den nächsten Reihensprung erreicht. Da in einem hexagonalen Gitter aber die benachbarten Reihen um einen halben Atomabstand zueinander versetzt sind, kommt es auch senkrecht zu den Scanzeilen zu Diskontinuitäten.

Eine äquivalente Erklärung wäre auch für das STM plausibel, da hier ebenfalls für die Spitze Potentialgräben anzunehmen sind. Abbildung  6.10


a)PIC b)PIC c)PIC PIC PIC

Abbildung 6.10: STM-Bilder der WSe2-Oberfläche. (a) UT = 1,024 V; IT = 3,37 nA; 27 Å × 27 Å; 30,52 Hz. (b) UT = 1,13 V; IT = 9,03 nA; 30 Å × 30 Å; 24,41 Hz. () UT = 1,024 V; IT = 3,41 nA; 30 Å × 30 Å; 27,13 Hz. Links unten: der Querschnitt zu der in (b) eingezeichneten Linie. Rechts unten: der Querschnitt zu der in (c) eingezeichneten Linie. (0 Å entspricht dem oberen Bildrand.)

zeigt drei Beispiele, wovon die Qualität des ersteren jedoch durch starke Störungen beeinträchtigt ist. Um die Unstetigkeiten in y-Richtung zu verdeutlichen, wurde zu den Bildern b und c jeweils eine Querschnittskurve erzeugt (siehe Abbildungsunterschrift zu Abb.  6.10). Bei der Aufnahme des rechten STM-Bildes waren Abtastrichtung und atomare Reihen nicht genau parallel, so daß die „Jalousie“ nicht sehr ausgeprägt ist. Bei den Bildern a und b jedoch sind sehr gut die für diese Reihen-Stick-Slips typischen rechteckigen Helligkeitsmaxima zu sehen.
Zur Scanrichtung senkrechte Einlaufstreifen
Wie man anhand der Erfahrungen mit den Reihen-Stick-Slips, die bei bestimmter Scanrichtung Jalousien hervorrufen, vermuten kann, spielt auch die Elastizität der Spitze in y-Richtung eine wichtige Rolle.

Schon auf Bild  6.8d und 6.10b ist zu sehen, daß untere und obere Bildhälfte nicht äquivalent sind: Jeweils unten sind sogenannte y-Einlaufstreifen vorhanden. Abbildung  6.11


a)PIC b)PIC

Abbildung 6.11: Beispiele zu y-Einlaufstreifen auf WSe2: (a) UT = 1,024 V; IT = 3,43 nA; 27 Å × 27 Å; 30,52 Hz. (b) UT = 1,01 V; IT = 4 nA; 33 Å × 33 Å; 22,19 Hz.

zeigt zwei weitere Beispiele. Man kann sich, von den bisherigen Hypothesen geleitet, vorstellen, daß zu Beginn jedes Bilddurchlaufs eine Nadel mit einer kleinen Federkonstanten vor dem ersten Reihensprung so, wie auch bei den waagerechten Einlaufstreifen, vorgespannt wird, bis ihre Energie ausreichend ist, um den Potentialwall zu überqueren.
Abknickende Reihen
Zum Schluß dieses Teils soll noch gezeigt werden, welche Abbildungseffekte eintreten können, wenn der Winkel zwischen Abtastrichtung und den atomaren Reihen nicht mehr nahe bei Null liegt: Abbildung  6.12

a)PIC b)PIC

Abbildung 6.12: (a) Abknickende Einlaufstreifen auf WSe2. (UT = 1,024 V; IT = 3,35 nA; 27 Å×27 Å; 30,52 Hz) (b) Abknickende atomare Reihen auf WSe2, ein Knick ist durch schwarze Striche gekennzeichnet. (UT = 1,09 V; IT = 3,81 nA; 40 Å × 40 Å; 24,41 Hz)

zeigt sogenannte abknickende Reihen, welche auch oft beim AFM beobachtet werden. Zwar sind die grundlegenden physikalischen Zusammenhänge hier vermutlich keine anderen, als die bisher angedeuteten, doch zeigen sich hier völlig neue Bildcharaktere. Die Winkelvariation war allerdings durch das verwendete Meßsystem, welches nur 15°-Schritte zuläßt, eingeschränkt. Es bestünde zwar die Möglichkeit, die Probe systematisch durch immer erneutes Einspannen in das Piezoröhrchen zu drehen, was jedoch einen hohen Zeitaufwand darstellt.

6.2.3.  Diskussion

Die meisten der in diesem Teil dargestellten Phänomene waren bereits sehr oft beim AFM beobachtet und diskutiert worden. Mittels eines Modells auf der Basis von rein elastischen Wechselwirkungen zwischen einer an Hookschen Federn aufgehängten Spitze und einer atomar korrugierten Oberfläche konnten Reibungseffekte beim AFM/LFM mit guter Übereinstimmung zu experimentellen Ergebnissen simuliert werden [42], was die Interpretation der Meßbilder stark vereinfacht hat. Beim STM spielen allerdings aufgrund größerer Spitze-Probe-Abstände auch attraktive Wechselwirkungskräfte eine Rolle, die bewirken, daß das zu Grunde zu legende Wechselwirkungspotential besonders von verschiedenen elektronischen Konfigurationen abhängt.

Vermutlich ist dies mit ein Grund für die große Variationsbreite der Charaktere von STM-Bildern. Die in diesem Kapitel dargestellten Ergebnisse lassen aber auch die Annahme zu, daß viele weitere Faktoren, die eine Asymmetrie im Bezug zur z-Achse bewirken, maßgeblichen Einfluß auf den Abbildungsprozeß haben, die da wären:

Obwohl viele Ähnlichkeiten zwischen zwischen AFM- und STM-Bildern bestehen, und so nach dem zueinander analoge Erklärungsansätze bieten, sollte doch betont werden, daß es einen entscheidenden Unterschied gibt: Während beim AFM/LFM direkt die Kräfte detektiert werden, liefert beim STM der Strom (bzw. die Rückkopplung des Regelkreises im CCI-Modus) das Meßsignal, welches nicht zwangsläufig mit lateralen Kräften korreliert sein muß. Zum Beispiel bedingt ein fast immer vorhandener, von lateralen Kräften herrührender Signalanteil beim AFM eine Scanhysterese. Der beim STM gemessene Tunnelstrom sollte jedoch unabhängig vom Vorzeichen der lateralen Kraft sein und somit keine Hysterese bilden. Trotzdem gelegentlich beobachtete Differenzen zwischen Hin- und Rücklauf könnten einerseits auf eine Asymmetrie des vordersten Spitzenteils, andererseits auch auf eine Verbiegung der Spitze, deren vordere und hintere Flanke verschiedene Tunneleigenschaften haben, zurückgeführt werden, wie in Abschnitt  6.2.1 beschrieben.